Das war ein schöner Weihnachtsabend: so viele Kerzen brannten an dem Weihnachtsbaum, dass die kleine Anette noch gar nicht alle zählen konnte, die Wohnung duftete von dem frischen Tannengrün, die Mutti übte noch einmal mit ihr das Gedicht, das sie aufsagen sollte, wenn der Weihnachtsmann kommt, alle waren ganz aufgeregt. Vati paffte dicke Wolken aus seiner Pfeife.
Gerade wollte Mutti das Abendessen auf den Tisch bringen, da klopfte es an der Tür: der Weihnachtsmann! Fast hätte Anette ihren Becher mit Saft vor Schreck fallen lassen, als er mit „HooooHooo!“ alle begrüßte. Aber es gab gar keinen Grund zu erschrecken. Der Weihnachtsmann war sehr freundlich und schaute lieb auf das kleine Mädchen, das Gedicht klappte prima, und zur Belohnung holte der Weihnachtsmann aus seinem großen Sack wunderschöne Geschenke: einen Teddy zum Kuscheln, eine Kugelbahn, dicke Bilderbücher zum Vorlesen und ganz zum Schluss noch einen großen Weihnachtsmann, ganz in ein buntes Stanniolgewand gehüllt. Der hatte es Anette angetan!
Als der Weihnachtsmann gegangen war, die Lichter heruntergebrannt waren und die Augen über den glühenden Bäckchen immer schwerer wurden, so dass es Zeit wurde, ins Bett zu gehen, mochte sie sich gar nicht von ihm trennen. Sah er nicht genauso aus wie der Weihnachtsmann, der die schönen Geschenke gebracht hatte? Er lachte so lieb, seine großen Augen blitzten freundlich, und sein Mund schien fortwährend zu sagen: „Du warst aber sehr brav!“ Anette wusste, dass der Weihnachtsmann innen ganz aus Schokolade war, aber wie er so dastand, schien er doch ein richtiger Weihnachtsmann zu sein. „Er ist sicher traurig, wenn ich ihn jetzt allein lasse“, dachte sie beim Zähneputzen.
Und als sie noch einmal ins Wohnzimmer ging, um Mutti und Vati „Gute Nacht“ zu sagen, nahm sie den Weihnachtsmann unter den Arm und trug ihn an ihr Bettchen, stellte ihn auf den Stuhl daneben, auf dem sonst immer Mutti saß, wenn sie eine Geschichte vor dem Einschlafen erzählte, und legte sich dann so auf die Seite, dass sie ihn fest im Auge behielt, als sie einschlief.
Im ganzen Haus war es schon ruhig geworden, so dass schon das kleinste Geräusch deutlich vernehmbar war. Und so kann es nicht Wunder nehmen, dass Anette plötzlich wieder aufwachte und in das dunkle Zimmer lauschte. Hatte sie nicht gerade eine Stimme gehört? „Ja, ich komme schon!“ hatte jemand gesagt. Aber da war doch niemand. Sie rieb sich die Augen und sah sich um. Da fiel ihr Blick auf den Weihnachtsmann. Der hatte sich aufgerichtet, seinen roten Mantel fester gezogen, die Kapuzenmütze ins Gesicht gezogen und seinen Sack geschultert. Es sah gerade so aus, als wollte er sich auf einen Spaziergang begeben. Gerade wollte er seine Stiefel fester schnüren.
„Weihnachtsmann, willst du mich verlassen?“ fragte Anette ein wenig bange.
„Ja, aber nur für ein paar Stunden, „ erwiderte er, „ich komme aber ganz bestimmt wieder.“
„Warum willst du weg? Und wohin?“
„Meine Kumpel haben mich gerufen. Wir treffen uns am Schokoladensee.“
„Am Schokoladensee? Da möchte ich auch mal hin. Nimmst du mich mit?“
„Das geht nicht. Da dürfen nur die hin, die so süß wie Schokolade sind, so wie ich, der Schokoladenweihnachtsmann.“
Anette war sehr enttäuscht. Sie hatte doch gedacht, der Weihnachtsmann sei ihr Freund und würde sie nie mehr verlassen. Und sie hatte ihn doch auch nicht allein gelassen.
„Bitte, bitte, nimm mich mit. Ich werde auch ganz lieb sein, so wie wenn ich mit Mutti in den Zoo gehe.“
Aber weil sie auch schon mal nicht ganz so lieb war, fügte sie schnell hinzu: „Und wenn du mich allein lässt, werde ich traurig und weine.“
Sie wusste schon, dass Weihnachtsmänner es nicht mit ansehen können, wenn kleine Mädchen weinen. Und richtig sah der Weihnachtsmann sieh nach diesen Worten erschrocken an, strich sich seinen silbrigen Bart, weil er ordentlich nachdenken musste, und kam dann zu dem Schluss: „Na gut, ich nehme dich mit. Du bist zwar nicht aus Schokolade oder Honigkuchenteig oder Zuckerguss, aber du siehst doch recht süß aus.“
„Au fein!“ juchzte Anette, „ist es weit bis zum Schokoladensee?“
„Oh ja, von hier nach da ist es einen ganzen Gedanken weit.“
Darunter konnte sich Anette zwar nichts vorstellen, aber es kam ihr unendlich weit vor.
„Da werden wir aber lange unterwegs sein. Soll ich mir meinen Anorak anziehen?“
„Das ist nicht nötig. Wir werden auf einem Sternenstrahl dahin fliegen.“
Und gerade in dem Augenblick, da der Weihnachtsmann das sagte, fiel durch einen Spalt im Fenstervorhang so ein Sternenstrahl in das Kinderzimmer.
„Schnell“, sagte der Weihnachtsmann, „den nehmen wir!“ Er beugte sich hinunter, nahm Anette auf seinen Arm, in dem eben noch ein Weihnachtsbäumchen steckte, und ab ging es auf dem Sternenstrahl.
Anette sah wie die Häuser unter ihr immer kleiner wurden, bis die Lichter selbst nur noch wie Sterne aussahen, die auf die Erde gefallen waren. Immer höher ging es hinaus, und es ging so schnell, dass die Haare nur so flogen, aber sie hatte gar keine Angst, denn sie war ja auf dem Arm des Weihnachtsmannes. Und dann auf einmal hörte sie eine wunderschöne lustige Musik, und ehe sie sich versah, landeten die beiden auch schon in hellem Sonnenlicht auf einem weißen Strand. Der Weihnachtsmann setzte sie ab und lachte:
„Nun kannst du dich so richtig am Süßen laben! Aber verdirb dir nicht den Magen!“
Im selben Moment ertönte auch schon ein vielstimmiges „HooooHoooooo!“, und als Anette hinüberblickte, standen da ganz viele Weihnachtsmänner, die dem ihren alle sehr, sehr ähnlich sahen.
„Sind das deine Brüder?“ fragte sie.
„Ja, sie sind alle meine Brüder, wir sind in derselben Schokoladefabrik geboren worden.“
Aber oh je! Einige sahen gar nicht gut aus: einer hatte einen krummen Buckel, dreien fehlten die Füße, und ein paar waren ohne Mütze.
Der Weihnachtsmann nahm sie an der Hand und ging mit ihr zu seinen Brüdern hinüber. „HoooHooooo! Das ist die kleine Anette, sie ist ganz lieb zu mir, und ich konnte mich einfach nicht von ihr trennen.“ Alle Weihnachtsmänner gaben ihr die Hand, und Anette machte für jeden einen artigen Knicks.
„Dann hast du also einen schönen Weihnachtsabend gehabt? Da hast du aber Glück gehabt!“
Und dann erzählten sie einander ihre Erlebnisse der letzten Stunden: der Krumme stand zu nahe an einer Kerze und wäre fast ganz geschmolzen, die ohne Füße waren schon gebissen worden, aber nur ein bisschen eben, und die ohne Mütze waren ebenfalls in die Hände von kleinen Leckermäulern geraten. Und nicht wenige waren gar nicht mehr gekommen, weil sie schon längst gegessen waren.
Während die Graubärte so miteinander plauderten, sah sich Anette um. Der Strand war aus richtigem Hagelzucker und statt dicker Kieselsteine steckten viele bunte Smarties darin. Und da erstreckte sich vor ihr ein schier unendlicher See aus brauner Schokoladensoße. Am Ufer lagen die Halbschalen von Booten aus Blätterkrokant, auf den Bäumen krabbelten Maikäfer aus Schokolade, und zwischen Büschen hoppelten doch tatsächlich schon Schokoladenosterhasen herum. Sie waren zwar noch nicht in buntes Stanniolpapier gehüllt, aber Anette war schon groß genug, um zu wissen, woran man sie alle erkennt. Die Bäume waren aus Borkenschokolade, an denen statt Blättern und Blüten lauter kleine bunte Gummibärchen wuchsen. Anette lief das Wasser im Munde zusammen.
Gar zu gern hätte sie davon genascht, aber sie hatte ja schon die Zähne geputzt, und danach war Naschen verboten! Außerdem hätte es den Schokoladentieren sicher wehgetan, wenn sie hineinbeißen würde.
Die Weihnachtsmänner hatten inzwischen begonnen, ihre Säcke abzulegen und ihre dicken roten Wintermäntel aufzuknöpfen. Sie strichen alles schön glatt und legten es sorgfältig auf den Strand, damit sie es hinterher wieder anziehen konnten. Ganz nackt und schokoladenbraun standen sie da, bis einer ein Zeichen gab. Da stürzten sie sich laut lachend in den Schokoladensee und planschten darin herum. Die Schokolade spritzte hoch auf, und die Weihnachtsmänner wurden noch schokoladenbrauner. Anettes Weihnachtsmann winkte ihr zu:
„Komm auch mit rein und bade mit uns! Die Schokoladensoße ist ganz warm und schmeckt köstlich!“
Fast wäre Anette zu ihm gelaufen, aber da fiel ihr Gottseidank im letzten Moment ein, dass sie ja noch ihr Nachthemdchen anhatte, und das wäre dann ganz mit Schokolade verschmiert gewesen. Da würde Mutti aber schimpfen. Und ausziehen konnte sie es ja auch nicht, denn sie hatte ja ihren Badeanzug nicht dabei. So blieb sie am Ufer des Schokoladensees stehen und stippte nur die Fingerchen hinein, um ein wenig davon zu kosten.
Aber es blieb nicht aus, dass ein paar Spritzer von den herumtollenden Weihnachtsmännern auf ihrem Nachthemd landeten. So ging es eine ganze Weile. Alle waren fröhlich und ausgelassen. Und die Schokoladenhasen, deren Zeit noch nicht gekommen war, kamen ganz zutraulich zu Anette und ließen sich von ihr streicheln. Die Schokoladenmaikäfer brummten in den Bäumen mit den Gummibärchen um die Wette. Und ein paar ganz mutige Schokoladenhasen liefen sogar auf einem Teich aus Zuckerguss Schlittschuh und drehten lustige Pirouetten.
Da ertönte von weit her ein Glockenschlag.
„HoooHooooo, wir müssen wieder zurück!“ rief Anettes Weihnachtsmann, „ich würde ja gern noch bleiben, aber was würde Anettes Mutti sagen, wenn sie das Bettchen leer fände?“
Er verabschiedete sich von seinen Brüdern, wünschte ihnen noch eine süße Weihnachtszeit und hüllte sich wieder in seinen Mantel aus Stanniol. Anette winkte allen noch einmal zu, streichelte einen besonders schönen Schokoladenhasen hinter den Ohren und lud ihn zu sich zum Osterfest ein.
Dann sprang sie wieder auf den Arm des Weihnachtsmannes, und ab ging es durch die Lüfte, zurück zum Kinderbettchen. Unterwegs schlief sie schon fest ein, und der Weihnachtsmann legte sie vorsichtig in ihr Bettchen und deckte sie gut zu, damit sie sich nicht erkältet. Dann setzte er sich auf den Stuhl und bewachte ihren Schlaf. Das war doch das schönste Weihnachtsfest, das sich ein Schokoladenweihnachtsmann träumen lassen konnte.
Die Wintersonne schaute schon durch die Ritze im Fenstervorhang, als Mutti die kleine Anette weckte. Natürlich entdeckte sie sofort die Schokoladenflecken auf dem Nachthemd, und auch in den Mundwinkeln waren die braunen Spuren des Naschens zu sehen.
„Du kleines Naschkätzchen, du hast in der Nacht noch von dem bunten Teller gegessen“, sagte sie mit erhobenem Zeigefinger, „aber wenigstens ist der Weihnachtsmann ganz geblieben.“ Was sollte Anette darauf sagen? Von ihrer Reise mit dem Weihnachtsmann konnte sie doch Mutti nicht erzählen, da wäre sie sicher wirklich böse geworden.
Also blieb sie einfach stumm und dachte sich ihr Teil. Und als sie zu dem Weihnachtsmann hinüberblickte, schien es ihr, als ob der ein Auge im stillen Einverständnis zukniff. Nun hatten sie beide ein wirklich süßes Geheimnis….
Text © Manfred Wolff
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